Post aus dem Äther

Von Spatzen und Hirnen

Von Daniele Dell'Agli
11.06.2002. Einwände eines Nachtarbeiters gegen den gemeinen Haussperling und die akustische Dickfelligkeit des Naturschutzbundes.
Nahezu unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit hat neben dem offiziellen Grand-Prix der Geschmacklosigkeiten in Tallin auch ein richtiger Sängerwettbewerb stattgefunden: der europäische Singvogelwettberwerb "Bird-Eurovision-2002", organisiert von der estnischen Naturschutzorganisation und der estnischen Ornithologengesellschaft unter Beteiligung von Partnerorganisationen in allen 12 Ländern der designierten Kandidaten. Publikumssieger des durch Internet-Abstimmung entschiedenen "contest" wurde der Goldregenpfeifer (Pluvialis apricaria) (mp3) für Island, die Profis kürten die Nachtigall-Kusine Luscinia luscinia (mp3) (vulgo Sprosser) aus Estland. Damit könnten Liebhaber des gezwitscherten Belcanto es bewenden lassen, hätte da nicht unser Naturschutzbund (NABU) bereits im Vorfeld der Ausscheidung bedauert, dass bei der Nominierung des deutschen Teilnehmers "der beliebte Spatz, Vogel des Jahres 2002, leider nur Platz vier" - hinter Zaunkönig, Pirol und Buchfink - belegen konnte. Man traut seinen Ohren nicht und erinnert sich dunkel, dass bereits das Deutsche Rundfunkarchiv, um die Pflege der Tradition nie verlegen, als "Dokument des Monats April 2002" eine Liste mit "Spatzenkonzerten" von so weltberühmten Komponisten wie Klaus Hugo, Erich Börschel oder Adolf Steimel auf seiner Webseite veröffentlich hatte. Zweck der historischen Rückschau, die von 1961 bis 1990 reicht, war es, für die peinliche Ernennung des Spatzen zum Jahresvogel 2002 durch den NABU zu werben - eine Information, die jeder musisch begabte Naturfreund längst wieder aus seinem Arbeitsspeicher gelöscht hatte.

Nach so erlauchten Vorläufern wie Eisvogel und Wiedehopf, Schleiereule und Neuntöter, Birkhuhn und Haubentaucher, die selbst Ornithophile teilweise nur noch dem Namen nach oder vom Fernsehen her kennen, soll nun also der Allerweltsvogel par excellence, der Haussperling vom Aussterben bedroht sein? Angeblich würde die Spatzendichte selbst in den Großstädten, den angestammten Biotopen dieses Verwandten des Wald-und-Wiesensperlings abnehmen: in London und Hamburg sei sie während eines einzigen Jahrfünfts von 500 Exemplaren pro Quadratkilometer auf 70 respektive 80 zurückgegangen. Das Ansinnen, auf solche immer noch rekordverdächtig hohen Zahlen die Schutzwürdigkeit eines Tieres zu begründen, wäre per se schon grotesk genug, wenn man bedenkt, dass es von den oben genannten seltenen Vögeln auf Zigtausenden von Quadratkilometern nicht soviele gibt wie Spatzen in einem einzigen Hamburger Viertel. Aber es ist darüberhinaus pure Augenwischerei: Hätte man die Spatzendichte von Berlin, München oder Paris zur Grundlage genommen, die in Altbauvierteln bei Tausenden pro Quadratkilometer liegt, müsste man eher den Vorwurf der Landplage aus den fünfziger Jahren unter städtischen Bedingungen erneuern und den flächendeckenden Einsatz des guten alten Strichninweizens fordern. Von der enervierenden Omnipräsenz dieses - neben Tauben, Möwen und Krähen - größten gefiederten Anpassungskünstlers auf dem ganzen Planeten kann sich übrigens jeder überzeugen, der bei Auslandsjournalen im Fernsehen auf den Soundtrack im Hintergrund der Reporter achtet: ob sie aus Buenos Aires oder Bombay, Washington, Kapstadt oder Moskau berichten, immer tönt es im Hintergrund ebenso aggressiv wie ostentativ nach Spatzengetschilpe. Und so mancher musikalische Kinogänger hat schon vorzeitig bei einem europäischen Autorenfilm den Saal verlassen, weil die besinnlichen Szenen vor toskanischer, provenzalischer oder baltischer Landschaft akustisch verseucht waren vom nervösen Geschmatze der kleinen nimmermüden Schreihälse.

Womit wir beim eigentlichen Ärgernis wären: "Der Gesang des Haussperlings ist ein eher monotones Tschilpen. Häufig zetert er aber auch 'terrteterrterr'". Diese Passage aus der Broschüre des NABU zum "Vogel des Jahres" - wo unter anderem auch auf ein Haussperlingssymposium, Haussperlingskartierungen u.ä. subventionsintensiven Aktivitäten verwiesen wird - verrät alles über die Gesinnung der Spatzenschützer. Für sie ist Tschilpen und Zetern schlicht "Gesang". Dazu passt, dass in der angeschlossenen kleinen Kulturgeschichte des passer domesticus zwar auch Dreckspatz und Spatzenhirn nicht fehlen, um die traditionelle Geringschätzung des hässlichen Vielfraßes zu dokumentieren, aber mit keinem Wort auf die von dieser winzigen Krachmaschine ausgehende Lärmbelästigung eingegangen wird. Denn der Spatz kennt, wenn er nicht gerade schläft, überhaupt nur zwei Zustände: fressen und meckern, wobei schon "Tschilpen" eine unhaltbare Verzärtelung des spitzen, aufdringlichen Geräuschs ist, das bekanntlich wie ein Niesen herausgeplatzt kommt und ununterbrochen den ganzen Tag über produziert wird, im Frühsommer bis zu sechzehn Stunden nonstop, denn wenn die einen picken, schreien die anderen und umgekehrt. Damit rundet sich das Bild der Jahresvogel-Lobbyisten ab: ihnen geht nicht nur der Sinn fürs Musische ab, sie gehören offenbar weder der schreibenden noch der denkenden Zunft an:sonst wüssten sie, was es heißt, wenn sich einem gerade weggedämmerten Nachtarbeiter um vier Uhr morgens die immergleichen hochfrequenten Hack- und Schmatz-Takte der geschnäbelten Schlafdiebe ins Hirn bohren. Und dann würden sie keine Kampagnen zur vollkommen überflüssigen Vermehrung dieser Nervensägen anzetteln.

Indes, die akustische Dickfelligkeit von Umweltschützern hat durchaus Tradition: sie reicht vom FCKW-freien Kühlschrank, dessen Kompressor sich dreimal so häufig wie bei konventionellen Modellen einschaltet, über die kleinen Glastonnen in den Hinterhöfen, in die niemand eine Flasche werfen kann, ohne nachhaltige Schädigungen seines Gehörs zu riskieren, bis hin zu den - vor allem in Berlin - berüchtigten Rüttelschwellen, die Autofahrer zwingen, runter- und wieder raufzuschalten und so Radfahrer, Passanten und Anwohner mit zusätzlichen Abgasen und Lärmemissionen zu belästigen. Der NABU liegt auch juristisch gut im Trend, der nach wie vor die Harthörigkeit von Gerichten und Gesetzgebern gegenüber Klagen auf Körperverletzung durch Lärmexpositionen verzeichnet. In einem Land aber, in dem man nicht einmal den Nachbarn zwingen kann, seinen Papagei abzuschaffen, der mit ohrenbetäubenden Pfiffen die Umgebung noch in 50 Metern Entfernung terrorisiert, darf einem um den Schutz der Natur Angst und Bange werden: woher sollen die instinktsichere Wachheit, die alarmbereite Empfindlichkeit, die vorausschauende Reizbarkeit kommen, wenn schon die hauptamtlich damit Befassten so gleichgültig, um nicht zu sagen ruinös mit ihren eigenen Sinnen umgehen? Und gibt es ein verlässlicheres Symptom für den Verfall ökologischer Kompetenz als dass der führenden Naturschutzorganisation ernst zu nehmende Kandidaten für die Rote Liste ausgehen? Schon kursiert das Gerücht, dass für das Jahr 2003 ein weiterer Allerweltsvogel zur bedrohten Art erklärt werden soll: die gemeine Haustaube (Columba livia domestica). Da kann es nur heißen: zurück ins Rundfunkarchiv, zu den Jagdkonzerten - und stadtmannsheil!