9punkt - Die Debattenrundschau

Schamanen des Informationszeitalters

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.12.2014. Libération berichtet aus dem französischen Städtchen Lunel, das sechs Jugendliche an den Dschihad verlor. Adonis macht in der Zeit den Westen für die Probleme verantwortlich, die die arabischen Länder mit sich selber haben. Auch die deutschen Zeitungen berichten jetzt über die Krise bei der New Republic. Der Guardian sucht einen neuen Chefredakteur - Alan Rusbridger geht in den Aufsichtsrat.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.12.2014 finden Sie hier

Medien

Cindy Sherman garniert die heutige Ausgabe der Welt mit ziemlich unheimlichen Fotos. Hans-Joachim Müller schreibt im zugehörigen Porträt: "Sie hat ja schon früh auffallen müssen, diese seltsame Anhänglichkeit ans gefährlich Abgründige, die Cindy Shermans Verkleidungskunst motiviert. Jedenfalls sind die schrillen Maskeraden in der Überzahl, auf beschwingt gemütlichen Karneval trifft man nie. Auch nicht in dieser von der Künstlerin gestalteten Welt-Ausgabe."

Der Guardian meldet, dass sein charismatischer Chefredakteur Alan Rusbridger in den Aufsichtsrat wechselt. Hier seine Mail an seine Kollegen: "Im Februar bin ich seit zwanzig Jahren leitender Redakteur beim Guardian. Es war eine außergewöhnliche Zeit. Im Februar 1995 waren Internetseiten,wenn überhaupt, eine exotische Sache: Wir brauchten noch vier Jahre um den Guardian Unlimited zu lancieren. Seit 1999 sind wir die größte englischsprachige digitale Qualitätszeitung der Welt." Mit über 110 Millionen Unique visitors im Monat. Weitere Links bei turi2.

Kurz nach dem hundertsten Geburtstag und zwei Jahre nach der Übernahme durch Facebook-Mitbegründer Chris Hughes steckt The New Republic in einer tiefen Krise (unsere Resümees). Das Feuilleton ist schockiert. Nach dem Rücktritt von Chefredakteur Frank Foer und Kulturchef Leon Wieseltier, der Kündigung fast aller leitenden Redakteure schaut Clemens Wergin in der Welt zurück auf eine Ära tiefgehender Essays und langer Politreportagen und sucht nach Gründen: Es sei Hughes und seinem neuen TNR-Chef Guy Vidra "nie gelungen, eine neue Mission für das Magazin zu formulieren, die über die üblichen Klischees aus dem Jargon der Start-up- und Internet-Szene hinausgeht. Die beiden versuchen, das Ganze als Konflikt zwischen alter Printtradition und der neuen digitalen Zeit darzustellen. Aber ganz offenbar hat Hughes nie verstanden, was für eine tiefreichende intellektuelle Tradition mit TNR verbunden ist." Hier der Brief Guy Vidras an die Leserschaft der Zeitschrift, der sich allerdings durchaus auf die Tradition des Blattes bezieht.

Und Patrick Bahners zitiert Hughes in der FAZ mit den Worten: ""Wenn man wirklich an einer Institution hängt und sie für die Zukunft stark machen will, dann macht man sich nicht davon. Man krempelt die Ärmel hoch, verdoppelt den Einsatz für diese Ideale in einer Welt des Wandels und kämpft." Hughes wirft dem Chefredakteur also vor, dass er den Abschied einreichte, statt sich absetzen zu lassen. Das ist der Korpsgeist der Sekte."

Welche Ironie: Im Gespräch mit Joachim Frank von der Berliner Zeitung prophezeit der Soziologe Jeffrey Alexander dem Journalismus - trotz oder dank des Internets - eine glänzende Zukunft. Der Qualitätsverlust sei bloßer Kulturpessimismus, Informationen im Netz sollten kostenpflichtig sein: "Der Journalismus als solches genießt in unseren modernen Gesellschaften quasi-sakralen Status, weil er durch Information und Meinungsbildung als Wesensbestandteil unserer Vernunft-Autonomie gesehen wird. Journalisten sind die Priester und Schamanen des Informationszeitalters." Und darum solle Journalismus zahlbar sein.

Weiteres: Henryk Broder empört sich in der Welt über den Bericht des ZDF zu einem Mordanschlag auf ein jüdisches Paar bei Paris, der zwar die Religion der Opfer, aber nicht die der Täter nannte: "Haben sich die israelischen Fahnen selbst entzündet, wurden die jüdischen Geschäfte gezielt von christlichen Pfadfindern zerstört? Kann man über Antisemitismus in Frankreich berichten, ohne über den Islam und den Islamismus im Lande zu sprechen?" Antwort: ja, das geht.
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Gesellschaft

Der 1930 in Syrien geborene, seit 1985 in Paris lebende Adonis gilt als einer der größten Dichter und Essayisten der arabischen Welt. Wenn man dann das Interview mit ihm in der Zeit liest, kann man allerdings nur verzweifeln. Sehr kritisch geht er zunächst mit den arabischen Staaten und dem Islam ins Gericht: "Wenn die Muslime von einer echten Revolution träumen, müssen sie zwei Dinge tun. Sie müssen Religion und Staat trennen. Und sie müssen die Frauen befreien." Ein paar Absätze später ist dann aber doch wieder der Westen an allem schuld: "Woher hat der IS seine schweren Waffen? Wer hat Bin Laden erfunden und Al-Kaida, um die Kommunisten in Afghanistan zu schlagen?" Und noch ein paar Absätze weiter: "Der Westen ist auf keiner Ebene ein Modell. Nicht mal seine Demokratie. Das demokratische Spiel ist die beste Form des politischen Lebens, aber es ist krank."

Anne Kunze erzählt in einer großartigen Zeit-Reportage von der "Geisterarmee aus Osteuropa", die in Niedersachsen zu schändlichen Bedingungen schlachtet - für Wiesenhof, Tönnies, Heidemark, Schwarz Cranz. Es verdienen auch andere: "Hausfrauen in Essen/Oldenburg, Hauptsitz von Danisch Crown, fangen Werkvertragsarbeiterinnen ab und bieten ihnen an, Kindergeld­anträge für sie auszufüllen. Kostet 150 Euro. Manche der Hausfrauen kommen auch mit zum Arzt. Für einen Fünfziger. Hier soll jeder etwas davon haben, dass es die Geisterarmee gibt."

Der Psychiater Manfred Lütz plädiert in der FAZ deutlich gegen aktive Sterbehilfe und warnt: "Beunruhigend ist, dass die Argumentation der Befürworter des ärztlich assistierten Suizids sich teilweise derselben manipulativen Rhetorik bedient, mit der der teuflisch-brillante Film "Ich klage an" aus der NS-Zeit arbeitete, der die Euthanasieaktion propagandistisch unterstützen sollte. Der suggestive Effekt läuft vor allem über die Worte, die Sprache, die Begriffe. Was vor siebzig Jahren der Begriff "Volksgesundheit" war, ist heute der Begriff "Selbstbestimmung"."

Weiteres: Nach internen Auseinandersetzungen hat das Royal Institute of British Architects seinen Israelboykott aufgegeben, meldet das Designblog Dezeen. Die Zeit beschäftigt sich in zwei Artikeln mit der Frage, wie der Fremdenfeindlichkeit zu begegnen sei (in Schweden und in Dresden). Mariam Lau skizziert das Problem so: "Wie findet man eine Sprache, die frei ist von Ressentiments, aber auch so klar, dass sie es nicht Rechtspopulisten über­lässt, Probleme zu benennen?"
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Geschichte

Bei aller Kritik an Gedenkjahren, das diesjährige Gedenken an den Ersten Weltkrieg hat etwas gebracht, findet Aleida Assmann bei faustkultur: "In Deutschland wirkte der Aufruf zur Erinnerung an den Ersten Weltkrieg .. wie ein Wecker. Die Menschen fuhren aus ihrem Vergessensschlaf auf und stellten sich auf das Ereignis ein mit einem breiten öffentlichen Interesse, persönlichen Formen der Anteilnahme und hitzigen intellektuellen Debatten. Nach zehn Monaten Erfahrung mit dem Gedenkjahr können wir sagen, dass dieser künstliche Impuls tatsächlich etwas in Gang gesetzt und bewegt hat."
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Überwachung

Der Buchhandel scheint sich an NSA und Google zu orientieren, schreibt Marc Reichwein in der Welt nachdem er in einer im britischen Guardian veröffentlichten Studie des E-Book-Händlers Kobo erfahren hat, wie E-Books das Leseverhalten ausspionieren: "Big Bookseller is watching you!"

 

Weiteres: Im Aufmacher des SZ-Feuilletons berichtet David Steinitz von einem Angriff der Hacker-Gruppe "Guardians of Peace" auf das Sony-Studio und den anschließenden Umlauf einiger äußerst delikater E-Mails.

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Stichwörter: Amazon, Buchhandel, E-Book, Google, Hacking, NSA, Sony

Politik

Stefan Grund berichtet in der Welt von einer Anzeige der AfD gegen die Hamburger Kampnagel-Intendantin Amelie Deuflhard wegen "Verdachts der Beihilfe zu Ausländerstraftaten sowie des Verdachts der Untreue". Die beiden AfD-Politiker Jörn Kruse und Bernd Baumann regen sich über das Kampnagel-Kunstprojekt "ecoFavela Lampedusa-Nord" auf, eine Hütte, in der derzeit sechs Lampedusa-Flüchtlinge aus Afrika überwintern, die aber auch Künstlern und Unterstützern als Ort für Gespräche dient. Die anderen politischen Parteien verurteilen die Anzeige einmütig als kleingeistig und lächerlich.
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Religion

Jean-Manuel Escarnot und Sylvain Mouillard berichten für Libération aus Lunel, einer kleinen Stadt zwischen Montpellier und Nîmes, aus der über dreißig junge Männer und wenige Frauen in den "Dschihad" gezogen sind. Jüngst sind zwei von ihnen ums Leben gekommen. Kurz davor starben vier bei einem Bombenangriff syrischer Regierungstruppen. Einer von ihnen war "Raphaël, ein brillanter Schüler im fünften Jahr in der Epitech, einer Technikhochschule in Montpellier, ein schöner Bursche, sportlich, Musiker in einer Rockband. Er war im Jahr seines Abiturs zum Islam konvertiert und hatte sogleich mit der Musik aufgehört. Die drei anderen kamen aus muslimischen Familien und hatten sich einem immer fundamentalistischeren Verständnis des Islam angeschlossen."
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Stichwörter: Dschihad, Islamischer Staat